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IV.
Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger
Cassirer: Was versteht Heidegger unter Neukantianismus? Wer ist der Gegner, an den Heidegger sich gewandt hat? Ich meine, es gibt kaum einen Begriff, der so wenig deutlich umschrieben wäre wie der des Neukantianismus. Was schwebt Heidegger vor, wenn er anstelle der Neukantianischen Kritik seine eigene phänomenologische einsetzt? Der Neukantianismus ist der Sündenbock der neueren Philosophie. Mir fehlt aber der existierende Neukantianer. Ich wäre dankbar für eine Klärung darüber, wo hier eigentlich der Gegensatz liegt. Ich glaube, es ergibt sich gar kein wesentlicher Gegensatz. Man muß den Begriff „Neukantianismus” nicht substanziell, sondern funktionell bestimmen. Es handelt sich nicht um die Art der Philosophie als dogmatisches Lehrsystem, sondern um eine Richtung der Fragestellung. Ich muß gestehen, daß ich in Heidegger hier einen Neukantianer gefunden habe, wie ich ihn nicht in ihm vermutet hätte.
Heidegger: Wenn ich zunächst Namen nennen soll, so sage ich: Cohen, Windelband, Rickert, Erdmann, Riehl. Das Gemeinsame des Neukantianismus kann man nur verstehen aus seinem Ursprung. Die Genesis ist die Verlegenheit der Philosophie bezüglich der Frage, was ihr eigentlich noch bleibt im Ganzen der Erkenntnis. Um 1850 ist es so, daß sowohl die Geistes- als die Naturwissenschaften die Allheit des Erkennbaren besetzt haben, so daß die Frage entsteht: was bleibt noch der Philosophie, wenn die Allheit des Seienden unter die Wissenschaften aufgeteilt ist? Es bleibt nur noch Erkenntnis der Wissenschaft, nicht des Seienden. Und unter diesem Gesichtspunkt ist dann der Rückgang auf Kant bestimmt. Kant wurde infolgedessen gesehen als Theoretiker der mathematisch-physikalischen Erkenntnistheorie. Erkenntnistheorie ist der Aspekt, unter dem Kant gesehen wurde. Selbst Husserl ist zwischen 1900 und 1910 in gewissem Sinne in die Arme des Neukantianismus gefallen.
Ich verstehe unter Neukantianismus die Auffassung der Kritik der reinen Vernunft, die den Teil der reinen Vernunft, der bis zur transzendentalen Dialektik führt, erklärt als Theorie der Erkenntnis mit Bezug auf die Naturwissenschaft. Mir kommt es darauf an zu zeigen, daß das, was hier als Theorie der Wissenschaften herausgenommen wird, für Kant unwesentlich war. Kant wollte keine Theorie der Naturwissenschaft geben, sondern wollte die Problematik der Metaphysik zeigen, und zwar der Ontologie. Worauf es mir ankommt, ist, diesen Kerngehalt des positiven Grundstücks der Kritik der reinen Vernunft in die Ontologie positiv hereinzuarbeiten. Auf Grund meiner Interpretation der Dialektik als Ontologie glaube ich zeigen zu können, daß das Problem des Scheins in der transzendentalen Logik, das bei Kant nur negativ da ist, wie es zunächst scheint, ein positives Problem ist, daß das fraglich ist: ist der Schein nur eine Tatsache, die wir konstatieren, oder muß das ganze Problem der Vernunft so gefaßt werden, daß man von vornherein begreift, wie zur Natur des Menschen notwendig der Schein gehört.
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