Cassirer-009
Und das Problem, das hierin liegt, verschärft sich noch weiter, sobald wir den Fortschritt von der transzendentalen Analytik zur transzendentalen Dialektik vollziehen — sobald wir von den reinen Verstandesbegriffen zu den Vernunftbegriffen übergehen. Denn diese beziehen sich niemals unmittelbar auf die Anschauung, sondern sie betreffen lediglich den Verstandesgebrauch selbst, dem sie die höchste systematische Einheit verschaffen wollen. Die Erfüllung dieser Forderung aber stellt uns vor einen neuen entscheidenden Grundbegriff: vor die Idee des Unbedingten. Wenn der Verstand das Ganze der Bedingungen der möglichen Erfahrung in sich faßt, so begnügt sich dieVernunft niemals im Umkreis dieser Bedingungen, sondern sie fragt über sie hinaus —ja diese Funktion des »Hinausfragens« ist ihre eigentliche und wesentliche Grundfunktion. Sie richtet sich nicht auf die Sinnlichkeit, um mittels ihrer ein Ding, ein konkretes empirisches Objekt zu erfassen und zu bestimmen — sondern ihre Aufgabe greift über die gesamte Sphäre dieser Art von »Dinglichkeit«, von Bedingen und Verdinglichen, hinweg. Mit ihr stehen wir daher erst auf dem eigentlichen Boden der »Transzendenz«. In diesem Sinne kann Kant sagen, daß das Unbedingte der »gemeinschaftliche Titel aller Vernunftbegriffe« sei. (Kr. d. r. V., B. 380) Und jetzt zeigt sich auch, daß die Charakteristik des Verstandes als „endliche” Erkenntniskraft nur ein Moment seines Gebrauchs betraf. Denn dieser Charakteristik tritt jetzt, in einem scheinbaren dialektischen Widerstreit, die entgegengesetzte Be-, Stimmung gegenüber. »Endlich« mag der Verstand heißen, sofern er niemals die absoluten Gegenstände erfaßt, geschweige, daß er diese Gegenstände schöpferisch aus sich hervorbringt — aber »unendlich« ist er, sofern die »absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen« zu seiner eigentlichen und wesentlichen Aufgabe gehört. Kraft dieser Forderung, die die Vernunft vor ihn hinstellt, wird er sich erst der eigenen Natur und ihrer Grenzenlosigkeit vollständig bewußt. Wenn er durch seine Beziehung auf die transzendentale Einbildungskraft der Sinnlichkeit und mit ihr der Endlichkeit verhaftet scheint, so hat er durch die nicht minder notwendige Beziehung auf die reinen Vernunftideen am Unendlichen teil. Denn die letzteren lassen sich zwar symbolisch darstellen — aber sie lassen sich nicht mehr in einem bloßen »Schema«, in einetn »Monogramm der Einbildungskraft« aufzeigen und festhalten. Von einem Prinzip der reinen Vernunft kann „kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden”, so daß es auch keinen Gegenstand in concreto haben kann. (Kr. d. r. V., B. 692) »Denn wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte ? Darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals irgendeine Erfahrung kongruieren könne.« (B. 649) Damit aber ist auch der Bann der bloßen »Rezeptivität« endgültig gebrochen. Wenn Fr. Heinr. Jacobi den Begriff der »Vernunft«’ sprachlich von dem des »Vernehmens« abzuleiten suchte, wenn er in der Vernunft eine wesentlich-empfangende Funktion sah.— so tritt hierin der ganze typische Gegensatz seiner »Glaubensphilosophie« zum kritischen Idealismus zutage. Für Kant ist die Vernunft niemals eine bloß vernehmende, sondern sie ist eine gebietende und fordernde Kraft: sie stellt uns vor den Imperativ des »Unbedingten« In dieser Grundauffassung tritt Kant unmittelbar anPlatons Seite. „Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit zu buchstabie-ren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicherweise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgendein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloße Hirngespinste seien” Man hätte, statt ihn hierfür zu tadeln, den „Geistesschwung des Philosophen” bewundern sollen, der ihn von der „copeilichen Betrachtung des Physischen der Weltordnung” zu der „architektonischen Verknüpfung derselben nach Zwecken, d. i. nach Ideen” hinaustrieb: „eine Bemühung, die Achtung und Nachfolge verdient.” (B. 371, 375) Und damit ist auch der Kreis der bloßen Zeitgebundenheit, des bloß-zeitlichen Daseins und der bloß-zeitlichen Bewußtheit, gesprengt. Zwar besteht für Kant kein Zweifel daran, daß alle rein theoretische Erkenntnis in irgendeinem Sinne »zeitgebunden« ist und bleibt. Die Vernunft strebt, theoretisch betrachtet, danach, „den Verstandesbegriff von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung” frei zumachen und ihn also über die Grenzen des. Empirischen zu erweitern — aber die Verknüpfung mit dem Empirischen gibt sie, in dieser ihrer Funktion, nicht auf. Denn ihr Ziel ist nicht, den Verstand schlechthin zu überfliegen, sondern seinen Erkenntnissen systematische Einheit und systematische Vollständigkeit zu geben. (Vgl. B. 435 ff.) Hier ist es somit das Erfahrungsganze — und somit das Ganze des Seins unter Zeitbedingungen —, worauf sie vornehmlich abzweckt. Aber dieses Verhältnis ändert sich nach Kant, sobald wir die Vernunft nicht mehr lediglich in theoretischer Hinsicht, sondern »in praktischer Absicht « betrachten. Denn mit dem »Unbedingten« der Freiheitsidee ist nunmehr endgültig der Schritt ins rein-»Intelligible«, ins Über- Sinnliche und Über-Zeitliche, gewagt. »Gesetzt … es fände sich in der Folge« — so bemerkt schon die Kritik der reinen Vernunft (B. 430) — »nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir inne werden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unserp nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligible (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen dienen kann.«